Morgenroutine ist eine Möglichkeit

Veröffentlicht am 11. September 2025 um 08:13

oder: mitunter ein Ding der Unmöglichkeit

Morgens komme ich mir bisweilen wie ein wandelndes Klischee vor. Heilige Morgenroutine aus Matte, Meditation, Milchkaffee. Und manchmal mache ich mir sogar einen Matcha, der noch mehr Zeit bis zum ersten Schluck schluckt. Dann vielleicht noch etwas in meinem Journal/Tagebuch notieren und/oder was lesen, vielleicht einen Podcast hören oder erstmal eine Runde spazieren gehen. Für so eine Morgenroutine können bei mir auch mal 60 bis 90 Minuten drauf gehen. Dafür stehe ich gerne früher auf und denke still an diesen Werbeslogan "Weil ich es mir wert bin". 

Diese Art Tagesstart, sich selbst erstmal die Priorität einzuräumen, tut verdammt viel für einen - nämlich verdammt gut!

Das ist schon schön, aber auch ganz schön Klischee. In der Yoga- und der Wellnesswelt wird so getan, als sei eine Morgenroutine das höchste Gut und unverhandelbar. Sowas ist nie gut. Und klar, Klischeebilder der Yogawelt, diese ach so perfekten Posen in Pastell versuche ich hier sonst zu entzaubern. Und ich wende meine Morgenroutine auch nicht immer an. Ich skippe zum Beispiel alle Routinen bis auf den Kaffee, wenn die Nacht kurz war. Zugegeben: Insgesamt gilt (für mich): Diese routinierte Umsetzung der Binse "Der Morgen macht den Tag" hat halt ihre Berechtigung. 

Zeit ist Luxus

Nur: Das ist auch Luxus! Zwar wird in der genauso propagiert, man müsse sich nur die Zeit nehmen, aber beim besten Willen: Nicht jede Person hat morgens Freizeit beziehungsweise sie hat nicht die Möglichkeit, sich diese Zeit frei zu nehmen. Wer, um mal ein Beispiel zu nennen, Backwaren herstellt und/oder verkauft, um seine Brötchen zu verdienen, der wird wohl kaum im Morgengrauen um drei die Zeit (und Kraft) finden für wesentlich mehr Morgenroutine als Zähneputzen und Koffein. Und nicht wenige haben morgens zu jonglieren, wie die Kinder in Kita oder Schule zu bugsieren und mehr.

Morgens im Angesicht des Alltags

Was wir uns öfter bewusst machen dürfen: Nicht jede Person kann sich einfach so „perfekter Start in den Tag“ in den Kalender schreiben. Na gut, das kann man schon, aber nicht jede Person kann das dann auch in die Tat umsetzen. Zeit ist ein Privileg. Zeit ist keine Ressource wie jede andere, Zeit lässt sich nicht lagern oder vermehren. Die in der Bubble der Selbstoptimierung gerne genutzte Binsenweisheit von “Zeit hat man nicht, man nimmt sie sich!” funktioniert nicht in jedem Leben/jeder Lebenslage... Für einige beginnt der Tag nicht mit Atemübungen, sondern mit dem ersten Schrei des Nachwuchses. Statt Meditation gibt es ein Brot, das mit der Marmeladenseite auf dem Fußboden landet. Statt auf der Matte landet man mal wieder verspätet im Auto. Und so weiter... 

Ja, mancher Morgen mag sich wie aus einem Lifestyle-Magazin darstellen lassen (Betonung darstellen!), aber er sollte nicht die Norm sein. Er ist nicht der Maßstab. Erstrebenswert ist er vielleicht, aber nicht selten unrealistisch. Lebensrealitäten sind unterschiedlich. In vielen dieser realen Leben ist für viele dieser Pseudo-Alltäglichkeiten, die speziell auf social media und in Selbsthilferatgebern er/verklärt werden, realistisch einfach kein Platz. Das sollte anerkannt werden und es ist vollkommen in Ordnung so. 

Eigenen Standard definieren

Auch eine Morgenroutine sollte man nicht zu einem Standard stilisieren, der Menschen im Angesicht der eigenen Alltagsrealität höchstens "Nicht mal Selfcare kann ich!" denken lässt, weil er so verflucht unerreichbar scheint oder unerreichbar ist im eigenen Alltagstrubel. Wenn Morgenroutine im Alltag ein Ding der Unmöglichkeit scheint, darf sie lieber klein, möglich und machbar sein! Man darf seinen eigenen Standard definieren.

Zum Beispiel könnte das so aussehen:

  • Drei bewusste Atemzüge, bevor man das Bett verlässt, also ein kurzer Moment, um sich zu spüren.
  • Den Kaffee/Tee/etc. still trinken und nicht nebenbei Mails oder social media checken, sondern kurz innehalten und den Geschmack wahrnehmen.
  • Ein Mini-Stretch bevor es aus dem Haus geht: Schultern kreisen, Nacken lockern, auf den Füßen wippen, usw.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.